Kaliningrad

Mehr als eine normale Schulpartnerschaft

Unmittelbar nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Sowjetunion reiste mein damaliger Kollege Eberhard W. in seinen Geburtsort Königsberg. Kaliningrad, wie es heute heißt, war bis dahin militärisches Sperrgebiet gewesen und durfte von Ausländern nicht besucht werden. Nun strömten endlich mit ihm ganze Heerscharen Heimatvertriebener in den Oblast (das ist ähnlich organisiert, wie ein Bundesland bei uns) und forschten nach ihrer Familien Vergangenheit und versorgten so die Exklave mit dringend benötigten Devisen. Dabei kam W. in Kontakt mit der Schule No. 17, dem heutigen Lyzeum No. 17 an der ul. Serpochowskaja und bemerkte die materielle Not dort. Im Winter 1992 organisierte er einen ersten Hilfstransport mit Lebensmitteln, Kleidung und Schreibwaren, den eine Gruppe von Schülern, Lehrern und Eltern unter unbeschreiblich abenteuerlichen Umständen bei Schnee und Eis nach Russland begleitete. Schon im selben Jahr kam eine Gruppe russischer Schüler mit ihren Lehrern nach Deutschland und bald hatte sich eine rege Schulpartnerschaft entwickelt. Ein Jahr fuhr eine Gruppe deutscher Schüler mit einem Hilfstransport nach Kaliningrad, im nächsten kamen die russischen Gastgeber zu uns. Wobei sich die wirtschaftliche Situation in Kaliningrad zunehmend besserte und die Hilfe später weniger in Lebensnotwendigem für die Schüler und ihre Elternhäuser, sondern mehr aus der Mitnahme von technischem Gerät für die Schule (Kopierer, Computer, Drucker und Druckerpapier) bestand.

Als ich gut 10 Jahre später die Partnerschaft übernahm, gab es solche mildtätigen Gaben nicht mehr. Hatten wir noch wenige Jahre zuvor der Schule den Internetzugang spendiert und damit den Schüleraustausch enorm erleichtert, stellten wir schon um 2005 fest: Das Lyzeum hatte uns in der EDV-Ausstattung, und nicht nur da, inzwischen deutlich überflügelt. Schon die späte Jelzin-Ära hatte eine gewisse wirtschaftliche Normalisierung gebracht, unter Putin verbesserte es sich noch einmal deutlich und kam dann auch endlich bei den Schulen und deren Ausstattung an. So war zu dieser Zeit der Austausch wirklich ein ganz normaler internationaler Schüleraustausch geworden, man nahm sich für jeden Besuch ein  Projekt vor und bearbeitete das beim Austauschbesuch mit den beiden Partnergruppen gemeinsam. Den zuletzt vorgesehenen Besuch unserer Schüler bekamen wir nicht mehr zustande, im Gegenteil sagte von den bereits Angemeldeten einer nach dem anderen wieder ab. Es gab wohl Sicherheitsbedenken bei den Eltern, nur wenige Tage nach dem vorgesehenen Besuchstermin eskalierte die Krim-Krise. 

Als Michael Gorbatschow Ende der Achtziger-Jahre das "Haus Europa" bauen wollte, hatten wir alle den Wunsch, den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wieder auf die Beine zu helfen, deren Wirtschaft so ruiniert war, dass die Bevölkerung bittere Not litt. Das ist weitgehend gelungen und hat zu einem gewissen Wohlstand in den Nachfolge-Staaten der ehemaligen Sowjetunion, gerade auch in Russland und insbesondere im Oblast Kaliningrad, geführt. Bei meinem letzten Besuch in Kaliningrad, der nun auch schon wieder über 10 Jahre zurückliegt, erlebte ich eine funktionierende Demokratie und insbesondere eine angstfreie und unbefangen agierende und lebende junge Generation, so dass ich das Gefühl hatte, die Veränderungen seien unumkehrbar. Spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine muss nun auch ich - ich habe mich immer gern als "Putin-Versteher" geoutet, weil er trotz allem berechenbarer und reflektierter schien, als sein Vorgänger  - begreifen, dass ich viel zu lange die Augen vor der Realität verschlossen und Dinge schöngeredet habe, die längst nicht mehr schön waren. Wir wissen nicht, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird und müssen sogar befürchten, dass der Krieg auch uns und unser Land erreicht. Dass der Schüler-Austausch damit vermutlich den Todesstoß bekommen hat, dürfte dabei das geringste Problem sein. "Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, im Innern und nach außen" hatte Willy Brandt einst in seiner ersten Regierungserklärung formuliert. Das war seit 1969 die Devise deutscher Außenpolitik geblieben - wie man das mit Gesprächspartnern leben will, die den westeuropäischen Kollegen glatt ins Gesicht gelogen und dann doch die Ukraine überfallen haben, kann ich mir derzeit nur schlecht vorstellen.

Dennoch ist es meine feste Überzeugung, dass wir auch in Zukunft nur in Frieden leben können, wenn wir auf Augenhöhe mit den Russen und allen anderen osteuropäischen Ländern verkehren. Mir scheint, der Westen setze dabei auf einen baldigen Sturz Putins. Anzeichen für einen Umsturz sind für mich freilich derzeit eher nicht zu erkennen, so wünschenswert sie vielleicht wären. Außerdem fürchte ich, unterschätzt die westliche Seite die Folgen für die Stabilität des russischen Systems in einem solchen Fall. Das könnte am Ende auch ein noch größeres Blutvergießen und noch weniger beherrschbare Konflikte innerhalb und außerhalb Russlands bewirken. 

Ein Besuch in Kaliningrad lohnt auch für Privatleute in jedem Fall, man taucht tief in die preußische Geschichte und in die russische Gegenwart ein. Ich kann den Besuch aber derzeit wegen der aktuellen politischen Entwicklung nicht empfehlen und er dürfte wegen der Sanktionen der EU auch nur sehr schwer realisierbar sein. Zumal das Auswärtige Amt in Berlin derzeit grundsätzlich von Russland-Reisen abrät. 
Zu unklar ist derzeit, wie sich das deutsch-russische Verhältnis weiter entwickeln wird, als dass ich guten Gewissens eine Reise in dieses Land empfehlen kann. Zudem ist Kaliningrad Sitz der russischen Ostseeflotte, denn hier liegt der einzige zuverlässig eisfreie Hafen im Ostseeraum. Solange es die UdSSR noch gab, war der gesamte Oblast Sperrgebiet und auch heute sind weite Bereiche um den Hafen Baltijsk (ehem. Pillau) für Reisende gesperrt. Es ist durchaus zu erwarten, dass auch das ausgeweitet werden könnte, sollten sich Spannungen zwischen der NATO und Russland weiter aufschaukeln. Die Hinweise, wie man eine Reise nach Kaliningrad organisieren kann, habe ich daher an dieser Stelle entfernt. Wer dennoch fahren möchte oder Hilfe vor Ort braucht, konnte sich einige Jahren an das deutsche Generalkonsulat in Kaliningrad wenden, das leider ab 30. 11. 2023 geschlossen ist. Konsularische Hilfe bekommt man nur noch in St. Petersburg, Russen müssen für Visaangelegenheiten wieder nach Moskau. Dieses Überbleibsel der Außenpolitik von Joschka Fischer und Gerhard Schröder war seit seiner Einrichtung eine wichtige Hilfe bei unseren Austauschbesuchen. Seine Abschaffung ist ein großer Fehler.

Unsere Partnerschule war immer stolz auf ihre Militärklassen. In unseren Augen sah das etwas befremdlich aus, wenn 14- bis 15-jährige Jungen schon im Unterricht die Uniform ihres Landes trugen, weil sie sich bereits für den Dienst an der Waffe verpflichtet hatten. Heute frage ich mich, ob Schüler meiner Partnerschule oder ob junge Menschen, die mir während ihres Besuchs in Mettmann anvertraut waren, nun in den Krieg gezogen sind und möglicherweise mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen. Die Nachrichtenlage ist karg, aufgrund der russischen Informationsgesetze traue ich mich auch nicht, meine russischen Freunde danach zu fragen. Immerhin kann man in den Nachrichtenportalen durchaus "zwischen den Zeilen" das eine oder andere entnehmen. Ich informiere mich meistens auf der Webseite von Newkaliningrad

Bilder unten: Austauschbesuch in Kaliningrad 2008, deutsche und russische Schüler bei einem Spaziergang über die kurische Nehrung und russische Schüler spielen für uns landestypische Musik

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